Kindern geht die Kraft aus

Schwäbisches Tagblatt, 23.12.2020 von ELISABETH ZOLL

Ja nicht auffallen. Viele Kinder, die mit ihren Eltern in den letzten Jahren nach Deutschland geflüchtet sind, haben das verinnerlicht. Nicht auffallen, damit die durch die Flucht schon überforderten Eltern nicht weiter belastet werden. Nicht auffallen, damit sich die Lehrer nicht bei Vater und Mutter beschweren. Nicht auffallen, damit zu den vielen Aufgaben, die Kinder in Familien von Geflüchteten übernehmen müssen, nicht noch weitere hinzukommen. „In diesen Familien haben die Kinder meist die Rolle des Außenministers“, beschreibt Andreas Mattenschlager, Leiter der Psychologischen Familien- und Lebensberatung der Caritas Ulm-Alb-Donau (BFL). Weil sie die deutsche Sprache schneller lernen, begleiten Kinder ihre Eltern zu Behörden, übersetzen, vermitteln. Mattenschlager: „Diese Kinder sind oft total überfordert.“ Fünf Jahre nach der großen Flüchtlingswelle zeigt sich das nach Beobachtung des Familienberaters immer deutlicher. „Vielen Kindern und Jugendlichen geht die Kraft aus.“ Manche von ihnen werden auffällig in der Schule, andere tauchten ab in eine innere Welt, wieder andere reagieren aggressiv – oft gegen sich selbst.

Weil Kinder, die mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen sind, oftmals durch das deutsche Hilfesystem fallen, kooperieren im Südwesten die Psychologische Familien- und Lebenshilfe der Caritas mit dem Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm (BFU) und mit Refugio VS, dem psychosozialen Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge in Villingen-Schwenningen. Das ist einzigartig im Bundesgebiet. Das Dreier-Bündnis nutzt mehrere Stärken: den direkten Zugang zu Familien, den die psychosozialen Dienste pflegen, und die speziellen therapeutischen sowie sprachlichen Kompetenzen des Behandlungszentrum im Umgang mit schwer traumatisierten Menschen. Finanziert wird die Kooperation aus Mitteln des Bundes, des Landes und der Kommunen, aber auch mithilfe eines mit 180 000 Euro nennenswerten Beitrags der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Doch warum fallen gerade Kinder und Jugendliche, die in Familien leben, so leicht durch das Raster? „Für Kinder ist es nicht so einfach zu formulieren, dass sie überfordert sind. Das werten sie selbst oft als Verrat gegenüber den Eltern“, sagt Regina Saile, die die Therapeutische Leitung am Behandlungszentrum für Folteropfer inne hat. Zudem hätten Eltern, die auch wegen der Zukunft ihrer Kinder aus Kriegs- und Elendsregionen geflohen sind, oftmals den Eindruck, dass es den Kindern in der relativen Sicherheit Deutschlands einfach gut gehen müsse. Dass aber auch ganz junge Menschen schreckliche Erinnerungen mit sich tragen und auch an ihnen die jahrelange Unsicherheit, wo das Leben nun weiter geht, zehrt, werde oft übersehen.

Die Fachkräfte der psychosozialen Dienste suchen deshalb Familien persönlich auf und versuchen in Gesprächen mit den Eltern, den Blick auf die Kinder zu lenken. Möglich ist das nur mit Vertrauen. „Das ist der zentrale Knackpunkt“, sagt Andreas Mattenschlager. Therapeutische Angebote stehen zunächst im Hintergrund. Weil diese Hilfsangebote für viele Familien fremd sind, werden Brücken zu Kindern meist mit Mal- und Kunstangeboten oder mit Rollenspiele aufgebaut. Das kann entstressen, wenn sich die Psyche in einer Art Dauererregung befindet und die gefühlte Gefahrensituation kein Ende nimmt. Und es kann Druck abbauen, bevor sich selbstzerstörende Verhaltensmuster verfestigen.

Einfach ist die Arbeit des Kooperationsteams dennoch nicht. Die andauernde Bedrohung durch das Coronavirus spitze die Situation der Geflüchteten in einer besonderen Weise zu. Nicht nur in Flüchtlingsunterkünften, wo eng an eng gelebt werden muss, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt. Praktikums- und Ausbildungsplätze werden rarer. Flüchtlingskinder trifft das besonders hart. Der Druck auf sie steigt weiter.